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6.

Mährchen und Romane.

Hat auch das Mährchen seine Regel? Uebel, wenn es solche nicht hätte, da bei seiner tiefen Einwirkung auf die Seele des Menschen, bei seinem noch tiefern Grunde in unsrer Natur es ein ungeheures Mittel zu Bildung oder Misbildung menschlicher Gemüther seyn kann. Beides ist es, obwohl nach verschiedenen Zeis ten und Völkern verschieden, immer gewesen und wird es bleiben.

1. Staunend erwachen wir in die Welt; unser er stes Gefühl ist, wo nicht Fürcht, so Verwunderung, Neugierde, Staunen. ,,Was ist das Alles um mich her? wie wards? Es gehet und kommt; wer zieht die Fåden der Erscheinung? Wie knüpfen sich die wandelnden Gestalten?" So fragt, sich selbst unbewußt, der kindliche Sinn: von wem erhält er Antwort? Von der stummen Natur nicht; sie läßt erscheinen und verschwinden, bleibend in ihrem dunkeln Grunde, was sie war, was sie ist, und seyn wird.

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Da treten zu uns sie, die uns selbst aus dem Schooße der Natur empfingen und einst selbst so fragten; wie sie belehrt wurden, so belehren sie uns, durch Sagen. Das gebildetste System der Geound Kosmogonie bleibt Sage; mehr noch mußten es die frühen Anfänge seyn, die über das Woher?

und

und Wie? der Dinge Rechenschaft gaben, ohne daß sie ihr Daseyn selbst verstanden.

Daher die ältesten, die Kosmogonischen Mährchen aller Völker; sie waren Erklärungen der Natur, in dem was man täglich oder jährlich vor sich sah. Wo man nicht wußte, dichtete man und erzählte.

2. Die älteste Naturlehre konnte also nicht anders als Mährchen werden; und sie wards, hie und da auf eine rohe, oft aber und gewöhulich mit der Zeit auf eine sinn ‹ und verstandreiche, angenehme Weis se. Wie erhuben sich diese Berge? wie entstanden diese Bluinen? Woher das mit sich selbst kämpfende Nordlicht? Woher der Bliß, der Donner, die Urne des Regens, der Hagel? In Blumenflocken fällt Schnee vom Himmel, wer streuet die Blumen? Dort brüllt und tobt ein flammenspeiender Berg; wer adhzt unter dem Berge? Auf dunkelu Wolken hängt dort ein farbiger Bogen, wer hing ihn auf?" So fragte über alle Erscheinungen der Natur die jugendliche Neus gier; allenthalben ward sie, wie man sie geben konnte, durch Sagen belehret.

Jusonderheit erweckten seltne Erscheinungen der Natur den Geist des Mährchens. Manche Gegenden, find sie nicht wie von diesem Geiste bewohnt? Hier dies romantische Thal, dort jener zauberische Brunn, dieser Fels, jene Brücke, diese Basaltsäulen, jene. Hole, Auf dieser Stelle des graunvollen Hains, auf jenem Scheidewege, ists nicht, als ob dort und hier

Herders Werkez. schön. Lit, u. Kunst. XII.

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unsichtbare Besizer, die zuweilen sich blicken lassen, wohnen? Pan, Nymphen hausen in dieser Höle ; Feen tarzen in diesem romantischen Chal; in jenem Zauber, brunn schwimmt eine Najade, in ihm wohut Melusine, Gelegentlich hatte man vielleicht hie und da eine Er scheinung zu sehen geglaubt; in diesem langen Gange eine weiße Frau, åhulich jener Gestalt in dem alten Bilde; im Walde dort einen wilden Jåger, in Klos ftergängen Mönche und Nonnen, in Kreuzwegen Hes rengestalten. Oder man hatte alte Sagen, die der Phantasie vorschwebten, örtlich zu machen; wo, sagte man zu sich selbst, konnten sie füglicher vorgegangen seyn, als hier? Dies ist Fingals Höle; jenes Arthurs Berg; dort hielt er seine Tafelrunde; hier stand sein Palast.' So häuften, so fixirten sich Mährchen. Oft mischten sie sich; oft verjagte Eins das Ans dre. Keine Nation ist ohne dergleichen Geschicht- und Localfagen; in allen spiegelt sich ihr Land, ihr Geistess charakter. Sinnreiche Völker dichteten sinnreich; krieges rische kriegerisch ; sanfte sanft ; so verschieden wurden dann auch die Mährchen, aus denen späterhin die Geschichte aufblühte, erzählet. Das alte Griechenland war voll dieser sogenannt heiligen Spuren; keine Provinz, kein Tempel, kein Heldengeschlecht war ohne Einwirkung der Götter und Genien aufgeblühet; Pindars Gefänge, das Epos und Drama leben in diesem Zaus berkreise heiliger National -, Local- und Familien. mährchen.

3. Menschliche Begebenheiten und Charak tere sind indeß das, was, wie allenthalben, so auch im Mährchen am meisten anzieht; dies tritt uns hiedurch am nächsten. Wie sonderbar spinnen und weben sich oft die Schicksale eines Menschenlebens! An wie kleinen Knoten hangt ihre Verwicklung und Entwicklung! Wer knüpfte diese Knoten? welche unsichtbare Hand leitete und verschlingt die Fåden? Sinds Genien? Schußgeister? Alfen? gute und böse Feyen?

Und da zulezt doch an den Charakter des Men' schen, oft an seine Gestalt, an eine Eigenheit seiner Person oder seines Benehmens, an eine Neigung oder Gabe sich Alles knüpft; wer gab ihm dieses Talent? diese ihm selbst oft unerklärliche, sonderbare Neigung? dies Auszeichnende seiner Gestalt? wer prägte seinen Charakter?

Und wenn gerade dieser Mensch, jener Ort, dies Geschäft oder Moment in Glück und Unglück über sein ·Schicksal entschied, mithin ihm wiederholt fatal wurde; wer führte ihn dahin? wer brachte diese Mens schen, diese Umstände und Momente ihm entgegen, da er sie oft sorgsam vermied? Die Bildung oder Misbildung menschlicher Charaktere, das Weben ihrer Schicksale sind also der reichste Stoff zu Mähr. chen: denn nach Jahren, wenn wir uns im Spiegel anschaun und ́unser Leben überdenken, sind wir uns nicht selbst Mährchen?

4. Die Schicksals fabel fowohl, als das mensch

liche und das Kosmogonische Naturmährchen sind von der Menschheit also fast unzertrennlich; die Ersten beiden sind uns die unterhaltendsten; in den dunkeln Zeiten knüpfte sich beinah jedes ausgezeichnete Geschlecht an ein Familien - Mährchen, an ein Local, zuleht an die Weltentstehung selbst, wenn man irgend so weit aufreichen konnte.

Und da in unserm Leben das Größeste, meistens theils am Kleinsten hängt, da Scherz und Spott, List und Intrigue, Lüsternheit und Rachsucht oft bewir ken, woran der nüchterne Sinn kaum denket; und da gerade diese Gattung Mährchen vielen die angenehms ste ist, so ist sie auch natürlich die zahlreichste worden. Neuheit ist überhaupt die Seele der Erzählung; des Mährchens Tod ist Langeweile.

Von Orient und Griechenland aus war also das Gebiet der Mährchen von großem Umfange; es theil`te sich bald in die verschiedensten Felder. Die ruhigen Morgenländer liessen und lassen sich gern erzählen; ihr Klima, ihre Lebensweise, ihre Neigung fürs Wunderbare, ihre unbequeme Schrift und andre Ura sachen begünstigten das lebendige Erzählen; die Geschichte selbst, zuweilen eine unlängst geschehene Geschichte ward daher im Geist und Munde der Mors genländer selbst Mährchen. Denn muß es nicht jede mündlich fortgepflanzte, oft erzählte Sage bald wers

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