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ben der Menschen entråthseln mag. Durch Selbstbiographieen kommt es an den Tag; und o wie wird durch sie die Vorsehung gerechtfertigt! Ein selbstges schriebener Brief Tibers von den Quaalen seines Ges müths auf seiner wolluftreichen Insel sagt hierüber mehr, als eine lange Declamation sagen könnte.

Schritt für Schritt wird in unserm Leben der stille Gang der Adrastea merkbar. Da ist keine Schuld, die sich nicht strafe, kein Gutes, das sich nicht lohne, Wir sind und sogar bewußt, was unabgebüßt noch auf unsrer Rechnung stehe, und seinen Augenblick der Einforderung erwarte, wofür und wogegen uns Dies oder Jenes komme, womit wir es verdient oder verans laßt haben? wie es wegzutilgen sei, u. f. Immer nur durch überwindenden, nie ersinkenden Muth, durch) Zutrauen und Hoffnung. Nur Tugenden höherer Ordnung in jeder Art verbessern begangene Fehler, und bringen oft ein reineres Gute hervor.

Diese Führung der Adrastrea im menschlichen Leben, die manche Blüthe abwirft, um Früchte zu reis fen, Sie sei das Augenmerk jedes moralischen Selbstbeobachters und Geschichtschreibers. Nicht uns leben wir, sondern dem Ganzen; das Ganze wirkt auf uns, und preßt uns, Ihm anzugehören. Der gebildetste Mensch ist der, dem für sich und Jedermann die mo ralische Grazie ganz und willig in seiner Brust wohnet.

6. Unziemend sind also bei jeder Selbstbeschrei bung jene ekle Nachschmeckereien jugendlicher Leicht

fertigkeit, von denen auch Rousseau's Confefsionen nicht frei sind. Eine Beicht (Confession) soll diese Selbsts darstellung nicht seyn; jene gehört Gott und dem Beichs tiger; voll lüsterner Begier nach verlebten Jugendjahs ren ist eben als Beicht sie unanständig und häßlich. Wer über sich selbst spricht, soll ein reifer Mann seyn, der zwar, (wie Franklin es nenuet), die Irre thummer und Abwege seines Lebeus nicht verschweiget, fie aber auch nicht wiederholen möchte, und linde nur an ihren Plah stellt. Dafür bedarf er dann auch keiner Bußthränen, noch weniger jenes ewigen Murs rens mit Gott und mit sich selbst, das uns in frommen Tagebüchern so sehr zur Last fällt. Der Selbstz beschreiber habe seine Tagebücher geendigt, und rede über sich, wie über einen Dritten, oder da dies nicht leicht möglich ist, wie ein Wiederkommender, der sein Leben, roie es auch ausfiel, geendigt hat, und es jeht seinen Mitgeschöpfen, als ein verlebtes Naturproduct, darlegt. Weder årgern will er, noch prangen; aber lehren, nußen, dies ist seine mensche lichwohlthätige Absicht.

Kein Leser wird so leicht seyn, der in Erinnerung dessen, was ihm, auch mangelhafte, Lebensbeschreis bungen gewährten, dergleichen nicht in diesem reis nen Umriß, in dieser seelenvollen Gestalt wünschs te. Wohlan, er greife selbst zum Werk: denu auch Er hat gelebet. Nicht dem Publikum, aber sich ist er diese Recapitulation, dies zweite, geistige

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XIV, eine eigne Sattung von Schriften wurden, was ren von einer andern Art. Indem man allenthalben scharfsinnig oder fein sich auszudrücken bestrebte, und mit dem Wenigsten das Meiste, das Stärkste aufs gelindeste sagen wollte: so bekam natürlicher Weise der Ausdruck eine epigrammatische Kürze und Runs dung, oder eine Spike, pointe. Man befliß sich einer gewiffen Nachlässigkeit in hingeworfenen Gedanken, denen man eine schöne Naivetät beimaas. Andre strebten zum Hohen hinauf; andre theilten den Lichts stral und ließen ihn anmuthig schimmern, wozu die metaphysische Prácision der Sprache viel beitrug. Kurz, finnreiche Gedanken wurden zur Mode; Pater Bouhorus sammlete dergleichen aus Alten und Neuern, sogar aus den Våtern der Kirche a).

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Vor andern waren es Pascals und Rochefou caults Gedanken, die gleichsam eine eigneRubrikclassis fa er Literatur bestimmten. Pascals Gedanken waren hingeworfene Scizzen, größtentheils über die Reliz gion, von denen man nicht recht weiß, wozu er sie brauchen wollte. Sie stellen den Menschen an ein Uns endliches, an einen Abgrund zu beiden Seiten, (den Pascal immer auch neben sich sah); da dann natürlich sein Ebenmaas, schwindet. Die großen Contraste, famt dem Gewicht, das auf sie gelegt wird, geben nothwendig erhabne, starke, große Gedanken, bei

Pensées ingenieuses des Anciens et des Modernes, recueillés p. le Pere B. Paris 1692.

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denen und oft schwindelt. Und Pascal drückt sie so majestätisch - ernst, so schmucklos einfach aus! Uns streitig ist er der Erhabenste der Prosaisten Frankreichs.

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Aufs Maas der Dinge zurückgeführt, kann man sich indeß schwerlich bergen, daß manche dieser Contraste grotesk und übertrieben sind. Als Mitwe. fen der Schöpfung hat sich der Mensch nicht mit dem Unendlichen, sondern mit der Endlichkeit zu berechnen, wo ihm dann in Allem sein Maas, sein Zweck, seis ne Bestimmung gnugsam vorliegen; das Weitere hat die Vorsehung hinter einen Vorhang gestellt, den nur Glaube, Liebe und hoffnung durchdringen mögen, nicht messend, sondern ahnend. Angst, Furcht und Schauder, die den kranken Pascal erfüllten, bringen uns hiebei nicht weiter. Auch sind in seinen Gedanken die Jüdischen Schriften und das Jüdische Volk sonderbar beduget, so daß man wahrnimmt, der maż thematische Kopf, der die Cykloide fand, fand deshalb nicht auch die Cykloide des Ganges der Religion und Menschheit. Seine vortrefliche Gedanken haben in Manchem also einen vorsichtig prüfenden Leser oder einen einschränkenden Commentar nöthig, an denen es ihuen, (die wenigen Anmerkungen Voltaire's ausges nommen) vielleicht noch fehlet. Den Pascal noch höher zu spannen, als er sich selbst spannt, ist eine vers gebliche, vielleicht schädliche Arbeit.

Wie Pascals Geist oft zu hoch fliegt und vor uns in den Wolken verschwindet, so krümmen sich Roches

foucaults Gedanken, obwohl sehr fnnreich, ~ fein und zierlich, in die Enge der von ihm gekannten Hofwelt, die seine Welt war. In ihr mag alles aus verkappter Eigenliebe gedacht, gesagt, geheuchelt und gethan werden; wäre deshalb Eigenliebe das einzige Princip aller menschlichen Handlungsweise? Offenbar gehören wir der großen Natur zu, der wir in Trieben und Neigungen, selbst wieder unsern Wils len, uns nicht entziehen mögen; alles Isoliren schas det; wir sind und gehören dem Ganzen, aus dem wir kamen, in welches wir zurückkehren. Rochefou caults und späterhin Helvetius Philosophie, die Alles aufgröberen oder feineren Eigennuß gründet und dahin zurückführt, ist die kälteste unter der Sonne, die der fortstrebende Gang der Natur selbst widerleget. Kann der entschlossenste Egoist es je dahinbringen, sich selbst allein zu leben? Vom feinsten Element bis zum böchsten Gedanken und Willen der Schöpfung muß zuleht Alles Allem dienen. Eine Ausgabe von Ros chefoucaults Gedanken, worinn diese, nicht pedantisch, fondern in seiner sinnreichen Manier contrastirt würs den, wäre für den Verstand und das Herz der Menschs heit eine Wohlthat.

Und von dieser Zeit an begann man in Frankreich aus jedem Hauptschriftsteller (wie man es nannte), den Geist esprit, heraus zu ziehen a), und so bekam man eine ungeheure Anzahl getrennter, scharfsinniger, a) Esprit de Montagne &c.

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