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DAS PROTISTENREICH.

Eine populäre Uebersicht

über das

Formengebiet der niedersten Lebewesen.

Mit einem wissenschaftlichen Anhange:
SYSTEM DER PROTISTEN.

Von

E. HECKEL.

Mit zahlreichen Holzschnitten.

Leipzig.
Ernst Günther's Verlag.

1878.

B

BIBLIOTHECA

RECIA

MONACENS

Alle Rechte vorbehalten.

Für ür das tiefere Verständniss unserer heutigen Entwicklungslehre und der darauf gegründeten einheitlichen Weltanschauung dürften wenige Zweige der Naturwissenschaft von so fundamentaler Bedeutung sein, wie die Naturgeschichte der niedersten Lebewesen, der sogenannten Protisten. Denn die urwüchsige Einfachheit im Körperbau und in den Lebens-Erscheinungen dieser unvollkommnen ,,Urwesen" öffnet uns erst den wahren Weg für das Verständniss der viel entwickelteren und schwierigeren Erscheinungen, welche uns die Anatomie und Physiologie der höheren und vollkommneren Organismen, der echten Thiere und Pflanzen darbietet. Dennoch ist die Bekanntschaft mit den Protisten bisher fast nur auf die gelehrten Fachkreise beschränkt geblieben und erst sehr wenig in weitere Kreise eingedrungen. Das ist auch leicht erklärlich. Denn die grosse Mehrzahl jener einfachsten Lebensformen, die wir im ,,Protistenreich" zusammenfassen, ist dem unbewaffneten Auge völlig verborgen. Erst durch das Mikroskop können wir sie erkennen, und meistens erst mit Hülfe starker Vergrösserungen ihre Form-Verhältnisse genau erforschen. Aber auch dann ist diese Erforschung noch mit vielen Schwierigkeiten und Hindernissen verknüpft. Denn die allgemeinen Anschauungen vom lebendigen Organismus, die gewöhnlichen Begriffe von den Organen und Functionen der Lebewesen, welche wir aus der alltäglichen Anschauung des höheren Thier- und Pflanzen-Lebens uns gebildet haben, passen nur wenig oder gar nicht auf jene niedersten Lebensformen. Ausserdem ist aber auch die gründliche wissenschaftliche Erforschung der letzteren kaum vierzig Jahre alt; und erst die sehr ausgedehnten und sorgfältigen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre haben ihre Kenntniss auf eine solche Höhe gebracht, dass wir gegenwärtig wenigstens eine be

Haeckel, Das Protistenreich.

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friedigende Vorstellung von der Eigenthümlichkeit und eine klare Einsicht in die Bedeutung des Protisten-Reiches gewonnen haben. Wenn wir nun hier den Versuch wagen, in allgemein-verständlicher Form eine kurze Uebersicht über das ganze grosse Protistenreich zu geben, und seine hohe Bedeutung für die Entwicklungslehre dem Verständniss der gebildeten Kreise näher zu bringen, so sind wir uns der grossen damit verknüpften Schwierigkeiten wohl bewusst. Wir glauben aber denselben am besten zu begegnen, wenn wir uns auf die gedrungene Zusammenfassung des Wichtigsten beschränken, und die Bekanntschaft mit dem höchst mannigfaltigen und interessanten Detail dieses unendlich reichen Forschungs-Gebietes dem Studium der Special-Werke überZunächst wird sicher für unsere moderne Entwicklungslehre und weiterhin auch für unsere damit verknüpfte monistische Weltauffassung schon viel gewonnen sein, wenn eine allgemeine Anschauung von dem weiten Umfang des mikroskopischen Lebensreiches, von der Einfachheit und elementaren Bedeutung des „kleinsten Lebens" sich einen Platz im Bewusstsein unserer gebildeten Kreise erobert hat.

antworten.

Die niedersten Lebewesen, die wir hier als Protisten, d. h. ,,Erstlinge" oder „Urwesen" zusammenfassen, werden in weiteren Kreisen auch heute noch sehr oft mit den unpassenden Namen Infusorien oder Infusionsthierchen (im weiteren Sinne!) bezeichnet. In den systematischen Lehrbüchern der Naturgeschichte werden sie meistens als Urthiere (oder „, Protozoa") aufgeführt. Die beste deutsche Bezeichnung für die ganze grosse Gruppe wäre vielleicht: Zellinge oder Zellwesen; denn es würde dadurch die wesentlichste Eigenthümlichkeit ihrer Organisation, die autonome Selbständigkeit und permanente Individualität ihres einfachen Zellen-Leibes in präcisester Weise ausgedrückt.

Obgleich Viele von der Existenz der meisten mikroskopischen Protisten keine Ahnung haben, so kommt dennoch jeder Mensch unendlich oft mit ihnen in Berührung. Jeder hat beim Wassertrinken, beim Essen von Früchten, Austern und anderen rohen Speisen schon Tausende und Millionen von lebenden Protisten verschluckt, ohne sich dessen bewusst geworden zu sein. Denn obgleich diese merkwürdigen Geschöpfe von dem unbewaffneten Auge des Menschen zum grössten Theile gar nicht erkannt oder

zoen.

höchstens als ganz kleine Pünktchen wahrgenommen werden, sind sie dennoch in zahllosen, höchst mannigfaltigen und interessanten Formen allenthalben über unseren Erdball verbreitet. Unsere Mikroskope weisen uns dieselben überall im süssen und salzigen Wasser nach. Alle Bäche und Flüsse, alle Teiche und Seen, alle Tümpel und Gräben enthalten solche Urthierchen, oft in unglaublicher Masse. Man kann keinen Stein, keine Pflanze aus dem Wasser heben, ohne in dem daran haftenden schleimigen Ueberzug wenigstens einzelne Infusorien zu finden. Ebenso ist das Meer überall von ihnen belebt. Der weiche Schlamm, der den Meeresgrund bedeckt, besteht zum grossen Theil aus dergleichen ProtoDer feine schlammige Ueberzug, der bei ruhigem Wetter den klaren Meeresspiegel überzieht, ist aus Milliarden schwimmender Infusorien zusammengesetzt. Aber auch der Staub unserer Strassen, der Sand unserer Dachrinnen, die Humus-Erde unserer Felder und Wälder, enthält Millionen kleinster Infusorien-Keime, sowie eingetrocknete, aber noch lebensfähige Körper derselben. Wir brauchen bloss diesen Staub und Sand in einem Glase mit etwas Wasser zu übergiessen und diesen Aufguss einige Zeit in der Sonne stehen zu lassen, um durch unser Mikroskop Massen von beweglichen Infusorien wahrzunehmen; theils haben sie sich. in kürzester Zeit aus jenen Keimen entwickelt, theils sind sie unter dem belebenden Einflusse des Wassers aus ihrem Trockenschlafe zu neuem Leben erwacht. Ist es ja doch gerade diese Erscheinung, die zu der Benennung: Infusoria oder Infusionsthierchen, d. h. „Aufgussthierchen" Veranlassung gab.

Es sind jetzt kaum zweihundert Jahre verflossen, seitdem die mikroskopischen Infusorien durch den holländischen Naturforscher Anton van Leeuwenhoek zuerst in einem Topfe voll stehenden Regenwassers entdeckt wurden. Die Holländer haben die zweihundertjährige Jubelfeier dieser Entdeckung, die damals das grösste Aufsehen erregte, vor wenigen Jahren (1875) feierlichst begangen; und sie thaten Recht daran. Denn die wissenschaftliche Tragweite derselben ist in der That unermesslich, und je mehr wir mit unseren vervollkommneten Mikroskopen in die tiefsten Geheimnisse des Lebens eindringen, desto mehr werden wir uns ihrer Bedeutung bewusst.

Unsere ganze Anschauung vom Wesen des Lebens und

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